Eintrag 19 - Genug Zeit für Krieg (Teil 2)
- Istanbul, 3. Juli 2039
Das alte Lagerhaus war dunkel und feucht – genau der richtige Ort für alle Arten von Abschaum, dachte Blackwood, während er sich wieder einmal wunderte, ob sein Vorhaben wirklich eine gute Idee gewesen war. Vielleicht war es doch etwas zu komplex. Pläne innerhalb von Plänen, mehrere Ebenen von Geheimhaltung und Täuschung, nur um sich den Feind vom Leib zu halten.
Aber das war schließlich das, wofür er lebte, sagte er sich: Er wollte seinen sorgfältig zurechtgelegten Plan verwirklicht sehen. Er hatte stürmische Zeiten hinter sich und das Kämpfen allein reichte ihm längst nicht mehr aus. Aber das... Das hier war etwas ganz anderes.
Er lächelte dem Mann neben ihm zu. Ungeachtet dessen Weisheit und Erfahrung, hatte Sokolov seine List nicht durchschaut. Noch nicht, jedenfalls. Früher oder später würde er sie durchschauen, doch dann wäre Blackwood vorbereitet. Sokolov war ein praktischer Mensch, sie würden sich schon einigen. Die beiden anderen waren allerdings aus anderem Holz geschnitzt. Seagrove war zwar schlau, aber auch jung und naiv, und Grey war einfach zu verbittert. Außerdem kannte er ihr Geheimnis. Es gab nur wenig, das Blackwood nicht wusste.
Sein Gedankengang wurde durch die Ankunft des Mannes unterbrochen, auf den sie beide warteten. Ein kleiner, gedrungener Mann mit arabischem Aussehen näherte sich ihnen vorsichtig und schaute dabei nervös zu den Seiten, als ob er hinter jedem Schatten Gefahr wittern würde. Diese Furcht war umsonst – Blackwood hatte sichergestellt, dass ihnen niemand gefolgt ist und Sokolov setzte einige der örtlichen bösen Jungs auf seine Gehaltsliste, die ihnen den Ärger vom Leib halten sollten.
Sokolov trat als erster vor und reichte dem Mann seine Hand. Auch Blackwood begrüßte den Neuankömmling.
„Ahmed. Es ist mir ein Vergnügen.“
Er wandte sich an Blackwood.
“Adrian, das ist Ahmed Ibrahim, mein alter Partner.”
Der Mann schüttelte ihnen wortlos die Hand. Sein Griff war schlapp und seine Hände verschwitzt – er war offensichtlich nervös und nur die Aussicht auf einen satten Gewinn, den ihm Sokolov im Namen der Seahawks versprochen hatte, konnte ihn in diese Einöde herauslocken. Blackwood aber erinnerte sich, dass der Schein trügen kann und dieser Gedanke bereitete ihm riesiges Vergnügen. Er musste sich zwingen, um nicht zu grinsen. In Ibrahims Fall war das meiste gespielt – niemand würde auf die Idee kommen, dass diese unscheinbare Gestalt einer der einflussreichsten Mittelmänner in ganz Istanbul war. Ibrahim wandte sich Sokolov zu und über sein Gesicht huschte zum ersten Mal ein nervöses Lächeln. Eine perfekt gespielte Rolle, dachte Blackwood, bis ins letzte Details.
„Schön, sie wiederzusehen, Effendi.“
Sokolov lächelte so aufrichtig zurück, dass Blackwood sich fragte, ob er den alten Kommandanten nicht doch unterschätzt hatte.
Sobald die Freundlichkeiten ausgetauscht waren, ließen sich die drei Männer auf einige verstaubte Kisten nieder, die überall in dem heruntergekommenen Lagerhaus verstreut lagen und auch Ibrahim zögerte nicht, seinen hellen Anzug zu verschmutzen, was Blackwood als Zeichen großen Reichtums deutete. Oder einen weiteren einstudierten Charakterzug.
„Also, kommen wir zum Geschäft. Sie, meine Herren, müssen Istanbul mit ihren Leuten verlassen. Und das möglichst schnell. Mittlerweile wissen alle, was vorgefallen ist. Ungeachtet der Tatsache, dass die Stadt... wie soll ich sagen,“ Ibrahim machte eine abschätzige Handbewegung, „offiziell neutral ist, hat Clayburn in ganz Europa enormen Einfluss, auch hier. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er die Ratsversammlung dazu bringt, euch aus der Stadt zu verbannen.“
„Schließlich seid ihr Abtrünnige“, fügte er hinzu und lächelte entschuldigend.
Sokolov nickte.
„So ist es, deswegen sind wir ja hier. Wir haben Geld und wir brauchen Schiffe. Und zwar genug, um uns übers Mittelmeer zum Atlantik zu bringen.“
Ibrahim prustete vor Lachen.
„Genauso gut könntet ihr nach einem Einhorn verlangen, Effendi.“
Sokolov runzelte die Stirn und Blackwood musste sich anstrengen, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
„Komm schon, Ahmed. Ich weiß, dass du das hinbekommst. Dafür bist du doch bekannt.“
Wieder einmal blickte Ibrahim um sich, um sicherzustellen, dass sie allein waren.
„Keiner wird mit Abtrünnigen Geschäfte machen, Fjodor, du weißt das. Jedenfalls nicht offiziell, aber wegen der Lage auf dem Balkan sind alle Kommandanten aus Äußerste angespannt. Und wer sich mit ihm anlegt, von dem fehlt schon bald jede Spur. Ihr habt von Lodestar gehört, nehme ich an?“
Beide Männer nickten. Ibrahim schüttelte theatralisch den Kopf.
„Es ist ein dreckiges Geschäft. Einen Kille zu schicken, der so mit Kampfdrogen aufgeputscht ist, dass ihn selbst eine ganze Privatarmee nicht aufhalten kann. Und das im Hauptquartier von Lodestar selbst – wer weiß, was in Istanbul passieren kann.“
Die drei Männer saßen eine Weile in Stille und verarbeiteten die Information. Blackwood grübelte. Ja. Das war das perfide an der Terrortaktik der Clayburn Corporation. Sie funktionierte. Schließlich unterbrach Ibrahim die Stille.
„Es könnte aber einen Weg geben.“
„Ach?“
Ibrahim seufzte.
„Bevor alles zusammenbrach, ist die Türkei ein enger Verbündeter der Vereinigten Staaten gewesen. Es gab hier eine große Militärbasis. Sie steht längst verlassen da, wie so viele andere.“
Die Sonne stand schon hoch am Himmel und das Lagerhaus wärmte sich ziemlich schnell auf. Ibrahim wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er fortfuhr.
„Ich kenne einige Herren, denen es gelungen ist, wertvolle Ausrüstung von dort mitgehen zu lassen. Darunter eine ansehnliche Zahl von C-17-Flugzeugen.”
Sokolov wollte etwas sagen, aber Ibrahim stoppte ihn mit einer Handbewegung.
„Ich kann nicht versprechen, dass sie mir zuhören oder gar Geschäfte mit mir machen, aber ein ansehnlicher Haufen Kredite könnte ihre Meinung wohl ändern. Und ich meine einen sehr, aber auch sehr ansehnlichen Haufen Kredite,“ schloss er und warf Blackwood einen gewichtigen Blick zu.
Sokolov runzelte weiter die Stirn.
„Das ist nicht gut. Selbst bei bestem Willen ist die Reichweite dieser Flugzeuge zu gering, als dass sie uns aus Clayburns Einflussgebiet bringen könnten. Halb Afrika gehört ihm und seinen Verbündeten. Zum Verstecken ist die Welt ein verdammt kleiner Ort.“
Ibrahim zuckte mit den Achseln.
„Es geht um alles oder nichts, Effendi.“
“Hmm... Ich glaube, ich habe eine Idee,“ sagte Blackwood mit einem nachdenklichen Ausdruck und nickte sich schließlich zu.
„Ich habe von einer weiteren verlassenen Basis auf dem Sinai gehört. Ich müsste meine Freunde danach fragen. Aber fürs Erste... haben wir einen Deal, Mister Ibrahim.“
Ibrahim lächelte.
„Ausgezeichnet. Ich werde mich mit euch in Verbindung setzen, sobald ich mehr weiß.“
Er reichte ihnen die Hand. Das Treffen war beendet. Ibrahim erhob sich von der Kiste, schenkte auch jetzt seinem Anzug keine Beachtung und verschwand trotz seiner hellen Erscheinung vollständig in der Dunkelheit, was wohl sein letzter Trick zum Abschied war.
Als sie sich zur Tür aufmachten, hörten sie noch seinen letzten Satz, der durch den Raum hallte.
„Oh, und meine Herren! Versucht bis dahin nicht zu sterben.“