Eintrag 34 - Auf hoher See (Teil 1)
Lasst uns jedoch erst einmal schauen, wie die aktuelle Lage ist. Wir befinden uns auf einem Frachtschiff irgendwo im Mittelmeer, das im Schatten der Nacht versucht, sich vor dem Feind zu verstecken. Alle Lichter an Bord sind aus, die Männer und Frauen der Seahawks ruhen in ihren Betten und Hängematten, todmüde und ausgelaugt, eingelullt von ihrer Müdigkeit, dem monotonen Brummen der Schiffsmotoren und dem endlosen Flüstern des Meeres.
Zwei Männer und eine Frau sitzen dicht gedrängt um einen kleinen Tisch in der Kapitänskajüte. Die Kabine ist klein, das flackernde Licht einer kleinen Kerze ist jedoch kaum in der Lage, mehr als die Gesichter der Anwesenden zu erhellen. Sie schalten das Licht nicht an. Sie würden es nicht wagen.
Für einen Abzug aus einem vom Krieg erschütterten Gebiet war ihre Abreise aus Al Arish relativ sanft verlaufen. Sie mussten einiges an Ausrüstung abwerfen und die Entscheidung, welche Fahrzeuge sie zurücklassen würden, ist keine leichte gewesen, aber der Platz auf dem Schiff war begrenzt und das wichtigste für die erschöpften Seahawks war ohnehin Nahrung und Wasser. Das einzige, woran sie nach dem pausenlosen Kampf dachten, war die Aussicht auf eine einigermaßen ruhige Zeit auf See. Blackwoods Plan lief reibungslos. Clayburn rief seine Schiffe zurück, sobald die falsche ID samt Rückzugsbefehl verschickt wurde. Doch Blackwood wollte ganz sicher gehen und ordnete ein nächtliches Lichtverbot an, um nicht unnötig ins Visier eines allzu neugierigen Seewolfs zu geraten.
Einige der Seahawks waren ehemalige Marinesoldaten und unter ihrem wachsamen Blick hielt das Schiff den richtigen Kurs – immer gen Westen, auf die Straße von Gibraltar zu und dann weiter, Richtung Vereinigte Staaten.
Nach einem Tag auf See erlebten die Seahawks an eigenem Leib, worauf der uralte Wunsch der Seeleute nach ruhigem Fahrwasser begründet lag. Das Meer war alles andere als ruhig und selbst der stählerne Riese von Frachter hatte Schwierigkeiten, sich den Weg durch die tosenden Wellen zu bahnen, während ihm der Zorn der Elemente zusetzte.
Der Sturm ist ein kräftezehrendes Erlebnis gewesen, sodass die normalerweise bis tief in die Nacht von Schritten der Besatzung widerhallenden Korridore jetzt gespenstisch still waren. Die wenigen noch wachen Seahawks sind auf dem Oberdeck und starren in den Nachthimmel, denken vielleicht an die vergangenen Tage oder versuchen sie schnellstmöglich zu vergessen. Für die meisten fühlt sich Afrika an, wie ein böser Traum, aus dem sie die Gischt geweckt hat, andere hoffen darauf, bald aus ihrem Albtraum in einer Welt aufzuwachen, in der die nächste warme Mahlzeit nur einen Imbiss weit entfernt ist und man seine Liebsten jeden Abend in die Arme schließen kann.
Wiederum tauschend flüstern Zukunftspläne aus, als ob jedes lautere Geräusch ein Raubtier anlocken würde. Tausende von Jahren der Evolution haben die Urangst der Menschheit vor dem Dunkeln und den darin lauernden Raubtieren nicht besänftigen können. Sie wird womöglich niemals verschwinden, denkt Blackwood, während er den Argumenten seiner beiden Offiziere lauscht.
"Warum in aller Welt gehen wir in die USA? Wir wissen nicht, was uns dort erwartet. Kein Internet, keine zivile Luftfahrt, überall Zensur der Konzerne – es könnte dort längst eine nukleare Wüste geben, so wenig wissen wir."
Blackwood lächelt sanft, bevor er sich auf seinem Stuhl zurücklehnt und mit geschlossenen Augen antwortet.
"Zu segeln ferner als das Abendrot und Bad der Westgestirne, bis ich sterb'."
Sie schauen ihn beide irritiert an.
"Wie bitte?"
Zu seiner Verwunderung ist sie es, die versteht.
"Byron?"
"Tennyson. Trotzdem sehr gut, Kathryn."
Sie lächeln jetzt beide und nur Seagrove schaut sie nach wie vor abwechselnd mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn und erhobenen Augenbrauen an.
"Poesie, Josh. Poesie."
Er zuckt mit den Schultern, wie zu erwarten war. Blackwood wundert sich oft, wie das möglich ist, dass die nach außen so raue und abgestumpfte Kathryn mehr von diesen Dingen versteht, als Seagrove mit all seiner teuer bezahlten Bildung. Dann gesteht er sich jedes Mal wieder ein, dass das Leben voller Überraschungen ist. Und deshalb umso lebenswerter ist.
"Wie dem auch sei, unser Ziel ist sozusagen Peters letztes Geschenk. In den Dateien, die wir auf seinem Computer gefunden haben, wurde auch der Standort einer Geheimbasis von Clayburn genannt, die sich auf dem Gebiet des einst stolzen Staates Texas befindet. Wir wissen nicht, was sich dort befindet, aber wir wissen zwei Dinge. Erstens muss wertvoll sein – warum sollte man sonst eine so weit entfernte Basis unterhalten. Zweitens ist sie nicht gut verteidigt – ihre Geheimlage ist ihr größter Schutz und eine größere Militärpräsenz würde sie umgehend preisgeben."
Er sieht, wie die beiden nicken und fragt sich, wie weit er mit seinen Erklärungen ausholen kann, bevor er ihnen etwas konkretes verrät.
"Ich schätze, es ist Gold. Oder Diamanten. Kredite sind schön und gut, wie uns aber der wirtschaftliche Crash der 2020er-Jahre bewiesen hat, sind einige Tonnen kostbaren Metalls das beste, was man haben kann, wenn der Markt zusammenbricht. Mit Krediten kommt man nicht weit. Diamanten sind außerdem sehr handlich und leicht zu transportieren, wie Mister Clayburn schon bald herausfinden wird. Ich weiß nicht, was ihr dazu meint, aber ich denke, dass die Zeit für eine Rückzahlung reif ist.“
Er sieht, wie sie ihm beide zunicken – wie leichtgläubig können sie sein? Sie haben keine Ahnung, was sie in der Basis erwartet. Er weiß es aber, oh ja, er weiß es genau und er wird derjenige sein, der nach dieser Aktion die Belohnung einheimsen wird. Obwohl, so kommt es ihm in den Sinn, sich auch für die beiden ein Plätzchen in seiner Zukunft finden könnte. Vielleicht würden sie irgendwann doch noch zur Vernunft kommen. Vorerst gibt er sich jedoch mit der Rolle des Zuhörers zufrieden.
"Was machen wir, wenn wir in den USA ankommen? Wir können doch nicht einfach irgendwo an Land gehen. Es muss irgendwo im Süden sein, um den Trip nach Texas möglichst kurz zu halten und der U.S. Navy aus dem Weg zu gehen."