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Eintrag 41 - Heimwärts (Teil 1)

  • Jacksonville, Florida, 26. November 2039, morgens

Auf eine Spritztour mitgenommen zu werden, gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, dieses Mal bildete aber eine Ausnahme, weil sie dabei war und das ganze auf Gegenseitigkeit beruhte. Das Angebot kam letzte Nacht und zu seiner Überraschung erklärte er sich einverstanden, ohne zu zögern. Er wusste nicht, warum sie ausgerechnet ihn ausgewählt hatte, ahnte aber irgendwie, dass sie es auch nicht genau wusste, weil die ersten Fragen zu diesem Thema kommentarlos abgewehrt wurden und er es schließlich aufgab, weiter nachzubohren.

Und so saß er jetzt neben ihr in einem alten rostigen Wagen, preschte mit offenem Fenster die Route 301 entlang und ließ mitten im November den warmen Wind durch sein Haar streichen. Florida war selbst im Winter verblüffend warm, dachte er und erinnerte sich wehleidig an seine Kindheit in der kalten, sterilen Welt einer Firmenanlage von Clayburn Industries, in der Schnee nur als Abbildung auf einigen uralten Fotografien existierte.

Florida war voller Sonne, Hoffnung und Träume. Alle ihre Ängste und Probleme schienen unter der wärmenden Sonne wegzuschmelzen und zum ersten Mal seit vielen Monaten fühlte er sich wirklich entspannt. Irgendwie spürte er, dass es auch ihr so erging. Die schrecklichen Tage und Nächte vom Sinai verfolgten sie zwar immer noch, aber seit ihrer Ankunft in Florida lächelte sie immer öfter und das reichte ihm aus.

Sie fuhren an einigen verlassenen Tankstellen vorbei. Auf den Parkplätzen standen alte Wracks und warteten auf ihre Besitzer, die nie wieder zurückkehren würden. Er döste vor sich hin, eingelullt von dem monotonen Geräusch des 8-Zylinder-Motors und dem Schweigen seiner Begleiterin am Steuer. Bald fuhren sie an Siedlungen und Städten vorbei, wo er wieder zu sich kam und erstaunt dem Treiben der Bewohner zusah, die ihren Geschäften nachgingen und sich nicht von derart trivialen Dingen ablenken ließen, wie Wochenenden.

Wohin sie fuhren, merkte er erst, als sie an den Überresten eines grünen Ortsschilds mit der Aufschrift "GAIN" vorbeikamen. Sie wollte nicht darüber reden, nicht einmal mit Blackwood, den sie an diesem Morgen von ihrem Ausflug unterrichtet hatte. Blackwoods einzige Reaktion war ein kurzes Nicken, was sie in dem Augenblick zufrieden zu stellen schien, doch jetzt, wo er wusste, wo es hinging, fragte er sich, was ihr wohl durch den Kopf ging.

Der Ort erinnerte ihn an Jacksonville – dieselben Gerüche, dasselbe Durcheinander, die gleiche zerstörte Infrastruktur. Das alles schien sie nicht zu stören, als sie den knatternden Wagen durch die Straßen ihrer Heimatstadt navigierte und es irgendwie immer schaffte, an den Schlaglöchern und Ruinen vorbeizukommen, die das einst blühende Städtchen teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben.

Er konnte sehen, wie ihre Anspannung wuchs und wusste, dass sie fast am Ziel angekommen waren. Sie schaute sich um und war in Gedanken in einer anderen Zeit. Für sie war die Gegend ins ewige Licht der Kindheitserinnerungen getaucht, die Hausruinen weiß getüncht, die Werkstatt ihres Vaters gefüllt mit Kunden und Autos.

Sie hielt schließlich vor einem alten, aber gut erhaltenem Haus. Man konnte daran noch Spuren einiger kürzlich vorgenommenen Reparaturen erkennen. Eine große Garage stand daneben, darin waren zwei Autos zu sehen, ohne Räder und auf einer hydraulischen Rampe stehend, die offenbar darauf warteten, wieder instand gesetzt zu werden. Vor dem Garagentor stand ein weiteres Auto. Es war an einen uralten Abschleppwagen angekettet, wie ihn Seagrove aus alten Filmen kannte.

Ein stämmiger Mann stand auf der Veranda, legte sich schützen die Hand vor die Augen und versuchte, Fahrer und Wagen zu erkennen. Seine braun gebrannte und gealterte Haut kündete von einem Leben unter der Sonne Floridas. Unter seinem dichten, braunen Bart erkannte Seagrove selbst aus einiger Entfernung dieselben Gesichtszüge, wie sie auch die neben ihm sitzende Frau besaß.

Sie war sichtlich angespannt. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch und sah ihn an. Sie wollte etwas sagen, auf ihrem Gesicht spiegelten sich unzählige Emotionen, doch sie war nicht imstande, die richtigen Worte zu finden und stieg aus dem Wagen. Der Mann erkannte sie sofort und einen kurzen Augenblick lang sahen sie sich an, ohne etwas zu sagen. Seagrove fühlte sich unbehaglich, wie ein Eindringling, der sich in einen der privatesten Augenblicke ihres Lebens einschlich. Damit hatte er nicht ganz Unrecht, denn es sollte nur eins von zwei Mal in seinem Leben sein, in denen er sie weinen sehen würde. An diesen Tag und den glücklichen Ausdruck ihres Gesichts, über das die Tränen kullerten, würde er sich Jahre später erinnern – in dem Augenblick, in dem sie ihren neugeborenen Sohn in den Armen halten würden.

Die Stille wurde länger und als er zu ihr hinüber blickte, sah er sie immer noch weinen. Ihr ganzes Gesicht war von Tränen überströmt. Auch der Mann vor ihnen schluchzte, bevor er schließlich seine Arme öffnete und sie auf ihn zulief.

"Papa, ich bin zuhause."

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