In einem unserer früheren Artikel erzählten wir die Geschichte von Ján Bodnár, dem die Flucht aus der damaligen Tschechoslowakei in einem OT-65-Schützenpanzer gelang. In den 1960er-Jahren sind solche Fluchtversuche durch die dicht geschlossenen Grenzen nicht nur selten, sondern auch äußerst gefährlich gewesen und Bodnár gehörte zu den wenigen, die am Ende Erfolg hatten. Weitaus öfter kam es vor, dass diese Unterfangen katastrophal endeten und die wagemutigen Männer und Frauen ihren Traum von Freiheit mit dem eigenen Leben bezahlen mussten. Zu jenen tragischen Geschichten gehört auch diese.
Samohybný protiletadlový dvojkanón vz. 53/59, photo by Marko M
Anfang 1964 trafen sich während ihrer militärischen Grundausbildung in Mladá drei junge Männer: Vratislav Svoboda, Jan Vejvoda und Jiří Jirouch. Keiner von ihnen diente freiwillig, geschweige denn, hatte Spaß am Soldatensein und alle drei einte eine kritische Haltung gegenüber dem kommunistischen Regime. Sie hatten vor, dem „Arbeiterparadies“ den Rücken zu kehren und im Westen ein neues Leben zu beginnen. Sie waren jedoch keine blauäugigen Burschen und wussten ganz genau, dass die Grenzen ihres Landes von schussbereiten Soldaten, elektrischen Stacheldrahtzäunen und tödlichen Schussfallen gesichert wurden.
Sie dienten im 15. Regiment der 13. Panzerdivision und kamen (ähnlich wie fünf Jahre darauf Ján Bodnár) zu dem Schluss, dass sie für eine erfolgreiche Flucht eines der Panzerfahrzeuge ihrer Einheit kapern mussten, mit dem sie sich einem Rammbock gleich ihren Weg durch die schweren Grenzblockaden bahnen würden. Die Panzerung würde sie außerdem vor den Gewehren der Grenzsoldaten schützen. An der Grenze dienten die loyalsten und kaltblütigsten Verfechter des Regimes, die keine Sekunde zögerten, auch unbewaffnete Grenzverletzer zu erschießen.
Jan Vejvoda
Ursprünglich sollte einer der älteren OT-810-Schützenpanzerwagen entwendet werden, dessen Halbkettenantrieb jedoch extrem laut war, sodass das Risiko, frühzeitig entdeckt zu werden, einfach zu hoch ausfiel. Alle drei dienten als Lkw-Fahrer auf dem Praga V3S und einigten sich aus diesem Grund darauf, ihre Flucht mit einem mobilen Flugabwehr-Waffensystem auf V3S-Fahrgestell anzutreten. Das Fahrzeug mit der offiziellen Bezeichnung Samohybný Protiletadlový Dvojkanon vz. 53/59 (Selbstfahrende Doppel-Flugabwehrkanone, Version 1953/1959), wurde gemeinhin Ještěrka (Eidechse) genannt.
Die Eidechse gehörte zu den legendären Vertretern der tschechoslowakischen Panzerproduktion. Die Kombination aus modifiziertem Praga-V3S-Fahrgestell und der immensen Feuerkraft zweier 30-mm-Kanonen machte dieses mobile Flugabwehr-Waffensystem zu einem robusten und effektiven Panzerfahrzeug, sowohl gegen niedrig fliegende Ziele, als auch zur Feuerunterstützung am Boden. Zwischen 1959 und 1961 wurden um die 800 Exemplare gebaut (andere Quellen sprechen von ca. 900). Anfang der 1970er-Jahre kaufte Libyen nahezu 100 Fahrzeuge, die sich mit der Zeit ihren Weg durch ganz Afrika bahnten, zur Berühmtheit gelangte die Eidechse aber erst mit ihrer Teilnahme an den kriegerischen Auseinandersetzungen beim Zerfall von Jugoslawien.
Vratislav Svoboda
Zurück in der böhmischen Kaserne standen vier dieser Fahrzeuge in einer Reservegarage unweit der Barracken und die Männer beschlossen, sich einen von ihnen zu nehmen. Die Garage war zwar bewacht, doch die Wachleute sind Wehrpflichtige wie sie gewesen und die drei Männer gewannen schnell deren Vertrauen. Indes feilten sie an ihrem Fluchtplan.
Die Vorbereitungen
Die wichtigste Information, an der die drei interessiert waren, war der aktuelle Stand der Grenzbewachung. Bei einem Freigang fuhr einer der Männer – Jiří Jirouch – nach Prag, wo er einen Freund besuchte, der sich mit der Situation an der Grenze auskannte. Nach seiner Rückkehr wurden die drei Männer am 25. Februar 1964 zu einer Militärübung abkommandiert. Sie kehrten am 27. Februar in die Kaserne zurück und legten sich auf den 3. März als den Tag ihrer Flucht fest. Sie wollten im Morgen ausrücken, um den Frühnebel zur Tarnung zu nutzen.
Kurz vor dem geplanten Termin kam es jedoch zu einem fatalen Fehler.
Jan Vejvoda wurde dazu bestimmt, bei seinem Freigang in Prag ein Auto zu leihen und an die Grenze zu fahren, um die eingeholten Informationen zu verifizieren. Doch statt dies zu tun, blieb er zwei Tage lang bei seiner Freundin Dagmar Tomcová in Prag und bestätigte seinen Kameraden bei der Rückkehr die vermeintliche Existenz der leicht zu durchbrechenden Holzbarrieren an der Grenze, von denen Jirouchs Kontakt berichtete. Seine ahnungslosen Freunde machten sich wieder an die Vorbereitungen. Sie entschieden sich dafür, auch Tomcová in ihre Pläne einzuweihen. Sie war 10 Jahre älter als Vejvoda, sprach fließend Deutsch, hatte Verwandte in den USA und nichts als Verachtung für das kommunistische Regime übrig.
Die Flucht
Am 2. März wachten die Männer um 4 Uhr früh auf, legten ihre Uniformen an und gingen zur Garage, in der die vier Eidechsen schlummerten. Die Wachen ließen sie passieren, nachdem sie sich als Fahrer und Mechaniker zu erkennen gegeben hatten. Unter größter Vorsicht tankten sie eines der 10-Tonnen-Fahrzeuge voll, überprüften den Stand der Batterien und fuhren es hinter eine Gruppe von Bäumen auf dem Barrackengelände. Sie stellten das Fahrzeug dort gut getarnt ab und brachen in eine kleine, schlecht gesicherte Munitionskammer ein, aus der sie sechs Pistolen und jede Menge Munition stahlen. Sie verstauten die Pistolen im Fahrzeug und kehrten in ihre Barracken zurück. Den Tag verbrachten sie unter höchster Anspannung und stets in der Sorge, jemand würde den Diebstahl der Waffen entdecken. Doch die Sicherheit in der Kaserne ließ sehr zu wünschen übrig, da die meisten dort ihren Wehrdienst abbummelten und sich in bester realsozialistischer Manier herzlich wenig um Vorschriften kümmerten.
Jiří Jirouch
Sie warteten bis fast 23 Uhr ab. Im Schutz der Dunkelheit schlichen sie sich aus ihren Barracken, gelangten zu dem versteckten Panzerfahrzeug, ließen den Motor an und fuhren unentdeckt davon.
Statt direkt zur Grenze wollten sie zunächst nach Prag fahren, um Tomcová aufzugreifen. Sie fuhren über Landstraßen, wo Militärfahrzeuge kein Aufsehen erregten und kamen gegen Mitternacht in Prag an. Sie müssen sich unverschämt sicher gefühlt haben, als sie das Panzerfahrzeug vor Tomcovás Wohnung abstellten, seelenruhig ihr Gepäck verstauten und einen Kaffe tranken, bis sie sich schließlich gegen 1 Uhr durch die leeren Straßen der Hauptstadt auf den Weg zur Grenze machten.
In der Grenzstadt Cheb tankten sie das Fahrzeug mit Reservekanistern auf, kletterten sich in die gepanzerten Kabine der Eidechse und legten die Pistolen zurecht. Der Motor startete, zwei Scheinwerfer zerschnitten den morgendlichen Nebel und das gepanzerte Monster fuhr seinem Treffen mit dem Schicksal entgegen.
Die Grenze
Das Fahrzeug erreichte den Grenzübergang in Pomezí um circa 6 Uhr früh. Beim Anblick des Panzerfahrzeugs dachten die Wachen zunächst nicht an einen Fluchtversuchs, bis der Motor aufheulte und die Eidechse die erste Holzbarriere zerschmetterte. Sofort rannten zwei Grenzer aus der Dienststation und versuchten dabei, ihre Waffen zu laden. Vejvoda fuhr das Fahrzeug in die zweite Barriere und gab erneut Gas, als ein ohrenbetäubender Knall die Kabine erschütterte und man förmlich hörte, wie Metall aufgerissen wurde.
Was Vejvoda nicht wusste - seine Informationen waren veraltet - war, dass in der Zwischenzeit eine dritte Barriere errichtet worden ist. Die ersten zwei Hindernisse waren in der Tat aus leicht zu durchbrechendem Holz, doch das dritte Hindernis bestand aus Betonblöcken, die mit Stahlträgern verbunden waren. Das Fahrzeug prallte mit Höchstgeschwindigkeit gegen einen der Stahlträger, wobei sich die massive Barriere verbog und die Eidechse sich weder vorwärts, noch rückwärts bewegen konnte.
Die Türen öffneten sich, der Fahrer Vejvoda sprang mit seiner Freundin heraus und beide begannen, in Richtung Grenze zu laufen. Svoboda folgte ihnen, Jirouch aber steckte schwer verletzt und blutend in dem Panzer fest.
The "Ještěrka" vehicle, stuck on the barrier
Die drei Grenzsoldaten feuerten auf die Flüchtenden, ihre Kugeln prallten am Panzer der Eidechse ab. Tomcová wurde von drei Kugeln in den Rücken getroffen und starb noch an Ort und Stelle. Die beiden Männer wurden gestoppt und festgenommen. Die Flucht war zu Ende.
Die Nachwirkungen
Dagmar Tomcová wurde kurz nach dem Schusswechsel für tot erklärt, die beiden Männer festgenommen und in die nahegelegene Kaserne gebracht. Auch Jiří Jirouch, der verletzt in dem zerstörten Fahrzeug feststeckte, wurde verhaftet.
Die letzte Barriere wurde ironischerweise eine Woche vor dem Fluchtversuch aufgestellt. Hätte Velvoda wirklich die Grenze überprüft, statt bei seiner Freundin zu übernachten, wären er und seine Freunde gewarnt und wüssten, dass die Barriere von beiden Seiten umfahren werden konnte.
The "Ještěrka" vehicle, stuck on the barrier
Alle drei wurden von einem Militärgericht in Příbram zu Gefängnisstrafen verurteilt – Jirouch zu sechs Jahren, Svoboda zu acht Jahren und Vejvoda – als Haupttäter – zu neun Jahren. Sie sind einigermaßen glimpflich davongekommen - ein Jahrzehnt früher wäre ihnen die Todesstrafe sicher gewesen. Die Grenzwachen, die Tomcová erschossen hatten, erhielten Auszeichnungen für eine „erfolgreich durchgeführte Aktion“.
Nach dem Gerichtsurteil wurden die drei Männer getrennt untergebracht und sahen sich niemals wieder. Vejvoda versuchte, aus dem Gefängnis zu fliehen und wurde dabei am 20. September 1964 von Wachsoldaten erschossen. Die beiden anderen wurden nach fünf Jahren im Rahmen des Prager Frühlings entlassen. Nach seiner Freilassung zog Vratislav Svoboda nach Ostdeutschland, wo er 1975 starb. Jiří Jirouch arbeitete weiter als Fahrer und gründete nach dem Fall des Kommunismus eine kleine Firma. Er lebt bis heute in der Tschechischen Republik.
Die Ermittlungen im Fall Tomcová wurden in den 1990er-Jahren wieder aufgenommen, der für ihren Tod verantwortliche Grenzsoldat angeklagt und im Jahr 2000 freigesprochen, da er nach Ansicht des Gerichts nur „Befehle ausführte“.
Quellen:
- I.Pejčoch – Hrdinové Železné Opony
- I.Pejčoch – Dagmar Tomcová
- R.Folprecht – Ještěrka šířila hrůzu a uprchlíci s ní proráželi železnou oponu
- Příběhy železné opony (Česká Televize)
- Ústav pro studium totalitních režimů (web pages)
- Csla.cz
- Valka.cz