Eintrag 19 – Offenbarungen
Der Flug nach Chicago verlief ruhig. Wie versprochen hatte Murdoch erst einen Frachthelikopter geschickt (da fragte ich mich schon gar nicht mehr, woher er so was hatte), dann einen Jet, um mich und Espinoza mitsamt unserer kostbaren Fracht nach Norden zu bringen. Trotz meiner Versuche, sie mit abenteuerlichen Geschichten über das, was ich schon erlebt und überlebt hatte, aufzuheitern (manches davon entsprach sogar der Wahrheit), sagte sie kaum ein Wort und weigerte sich standhaft, über unsere letzten Stunden im Camp zu sprechen. Sei's drum, dachte ich, ich erfahre ja eh bald alles.
Ein Wagen holte uns unmittelbar nach der Landung ab. Wir sahen kurz, wie die Hardware von Leuten mit Perihelion-Abzeichen und ansonsten unauffälligen schwarzen Sicherheitsdienst-Uniformen entladen wurde. Dann steuerte unser Fahrer den Wagen runter vom Rollfeld und raste durch die Stadt. Sein gnadenloser Dienstherr hatte ihm wohl eine strenge Zeitvorgabe gemacht. Nach den langen Flügen war die Fahrt erfrischend kurz, und plötzlich standen wir buchstäblich bei Perihelion auf der Matte. Ferguson erwartete uns bereits mit verschränkten Armen, ihrer typischen 'Ich bin hier der Boss'-Pose, die wir beide schon kannte, wie mir Espinozas abschätziges Schnauben zeigte.
Ferguson sah uns an, als wir langsam aus dem Wagen stiegen und auf sie zukamen. Sie nickte.
„Mir nach.”
Wir kamen zu einer Tür aus massivem Holz, verziert mit feinem Schnitzwerk, wie es sonst nur Monarchen, Despoten oder Mafia-Bossen vorbehalten ist. Ich war mir nicht sicher, zu welcher Kategorie wohl Murdoch gehörte, aber ich wollte es unbedingt herausfinden.
„Viel Glück”, sagte Ferguson, um dann anzuklopfen und beiseite zu treten. Zeit, die Höhle des Löwen zu betreten.
Es war ein heller, sonniger Tag, doch nur wenig Licht drang in die Schatten vor, in die das Büro gehüllt war – als ginge eine Aura der Finsternis von der Person aus, die hinter dem massiven Holzschreibtisch saß. In seiner in Zwielicht getauchten Gruft saß Murdoch mit gefalteten Händen und bedachte uns beide mit einem vernichtenden Blick. Wortlos wies er auf zwei Stühle vor dem Tisch.
Zwei weitere Personen, die offensichtlich nicht dort sein wollten, standen neben dem Schreibtisch, nestelten an ihrer Kleidung und versuchten, ja nicht Murdochs Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der eine war ein älterer Mann mit zerzaustem weißen Haar, der einen Laborkittel und darunter ein T-Shirt und verwaschene Jeans trug. Hätte man einen Doktor Frankenstein für das 21. Jahrhundert erfinden müssen, dann hätte er wohl GENAU SO ausgesehen. Das T-Shirt war mir sofort aufgefallen, da ein Kleiner Panda mit einem bedrohlichen Grinsen darauf zu sehen war. Irgendwie brachte mich das trotz unserer Lage zum Lachen. Der andere, ein großer Schwarzer mit grauem Bart, war merklich gefasster und überhaupt eher unauffällig. Er nickte mir zu, als wir eintraten.
„Hinsetzen.”
Murdoch hatte gesprochen, und sofort wusste ich wieder, warum wir dort waren. Als ich zu meinem Platz ging, fielen mir weitere Details unserer Umgebung auf. Es sah auf jeden Fall anders aus, als in jedem anderen Büro, in dem ich jemals zuvor gewesen war. In die Wände waren Steintafeln eingelassen, auf denen die gleichen seltsamen Schriftzeichen zu sehen waren, wie schon auf Murdochs Laufwerk. Selbst der Tisch war damit verziert, doch im Gegensatz zu den Steinen, die uns umgaben, kam er mir nicht uralt vor. Allerdings stand auf dem Tisch eine Skulptur aus Sandstein, die fein gearbeitete Büste einer jungen Frau. Nach dem, was ich sehen konnte, war es ein wahres Meisterwerk. Jede Locke Haar war kunstvoll wiedergegeben, um das Modell, wer auch immer sie sein mochte, für alle Ewigkeit lebendig zu halten. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen, da es zu Murdoch weis, doch es lag auf der Hand, dass diese Person ihm wichtig war.
Der hintere Teil des Raums war sogar noch dunkler als der Rest, und ich hatte das bestimmte Gefühl, dass sich da jemand in den Schatten versteckte, wartete und jede Bewegung genau studierte. Doch die Schatten waren zu dicht als dass meine Augen sie hätten durchdringen können, und so blieb mir nur (neben den beiden Wissenschaftlern) Murdochs strenge Visage.
„Sie haben das ganz schön verbockt, was?”
Murdoch klang nicht direkt wütend oder übermäßig enttäuscht, er sagte eher, wie der Stand der Dinge war – er hatte eine Stange Geld verloren. Punkt. Wieder konnte ich nicht fassen, dass dies der charmante Geschäftsmann sein sollte, den ich vor Wochen kennengelernt hatte, der mich zum Essen eingeladen und mir eine absurde Menge Geld gegeben hatte. Manchmal sehen wir die Leute wohl so, wie wir sie sehen wollen.
Einen Augenblick lang sah Murdoch die Skulptur an, und plötzlich lag da eine Müdigkeit in seinen Augen, die mir vorher nicht aufgefallen war. In jenem Augenblick wirkte er verloren, erschöpft von der ganzen Situation. Er suchte Trost im Anblick jener Statue – vergeblich, natürlich, doch der kurze Blick schien ihm zumindest etwas Seelenfrieden gegeben zu haben. Irgendwie machte ihn das ... in meinen Augen menschlicher, doch der Augenblick war so schnell vorbei, wie er gekommen war, und wieder musterte er uns mit seinem kalten, stechenden Blick.
„Fangen Sie an. Erzählen Sie mir alles, und lassen Sie kein Detail aus.”
Und so folgten zwei Stunden, die mehr Verhör als Debriefing waren. Murdoch reichte es die meiste Zeit, einfach zuzuhören, wobei er hier und da Zwischenfragen stellte. Währenddessen machten sich beide Wissenschaftler Notizen (mittlerweile saßen sie so weit wie möglich von Murdoch entfernt, ohne dabei unhöflich zu erscheinen).
Ich versuchte, mich an jedes Detail zu erinnern und nichts zu verschweigen. Espinoza sagte hingegen nur das, was sie unbedingt sagen musste, doch Murdoch schien das gleich zu sein – er war an meinem Bericht erheblich stärker interessiert als an ihrem. Ich ging jene schicksalhafte Nacht Minute für Minute durch und versuchte dabei so gut wie nichts auszulassen – die vermissten Scouts, die seltsame Stimme, die feindlichen Fahrzeuge und schließlich die Entdeckung der ferngesteuerten Panzer ...
„Nicht ferngesteuert.”
Einer der Wissenschaftler hatte mich unterbrochen. Murdoch warf ihm einen schnellen, warnenden Blick zu, doch der Mann konnte seine Aufregung offenbar nicht mehr bändigen.
„Was soll das heißen?“ Ich runzelte die Stirn.
„Nicht ferngesteuert. Unserer vorläufigen Analyse zufolge handelte es sich bei den Fahrzeugen nicht um Drohnen. Im Grunde genommen”, er zuckte mit den Schultern, „waren die stinknormal. Außer dieser anderen...”
Mitten im Satz hielt er innen, blinzelte und warf Murdoch einen Seitenblick zu. Ihm war wohl wieder eingefallen, dass er gewisse Dinge nicht erwähnen durfte.
„Aber ... da war doch keiner drin, und wir haben keine einzige Leiche bergen können.”
„Ach, ja. Wie unhöflich von mir”, warf Murdoch stattdessen ein. Offenbar sah er nun den Moment gekommen, um seine Begleiter vorzustellen.
„Darf ich vorstellen? Doktor Leonard Haswell, Leiter Forschung und Entwicklung ...”
Frankenstein winkte uns freundlich mit schmalem Lächeln zu.
„... und Doktor Abdu Az’dule, der die Ermittlungen leitet.”
Nun war es an dem schwarzen Wissenschaftler, uns mit einem Nicken zu bedenken, was ihm deutlich würdevoller gelang. Dieser Mann nahm sich selbst deutlich ernster als es sein Vorgesetzter tat, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass sie sich gegenseitig perfekt ergänzten. Es war fast schon wieder komisch, und ich musste dagegen ankämpfen, einfach zurückzulächeln. Schien mir einfach nicht angemessen zu sein.
Und dann war es an der Zeit, unsere Aktion mit dem Perihelion-Laufwerk und dessen seltsamem Inhalt anzusprechen. Murdoch starrte mich die ganze Zeit nur an, als ich erklärte, wie wir da reingekommen waren und was wir gesehen hatten. Ich erwähnte auch, welchen seltsamen Eindruck dieses Videomaterial auf uns gemacht hatte. Mittlerweile warfen sich die Wissenschaftler ständig Blicke zu, als würden sie fast darauf brennen, endlich etwas sagen zu dürfen. Und dann kehrte die Stille zurück in den Raum, denn ich hatte nichts mehr hinzuzufügen. Meine Geschichte war erzählt. Nun fehlten nur noch Urteil und Strafmaß.
Murdoch schwieg mehrere Minuten lang, saß einfach nur da und starrte gedankenversunken ins Leere. Keine von uns wagte, ihn zu unterbrechen – ich fand, dass ich schon genug Ärger am Hals hatte, und Espinoza ... keine Ahnung, was ihr durch den Kopf ging. Endlich blickte er auf, aber nicht zu mir, sondern zu ihr:
„Ich denke, nun wäre der richtige Augenblick, um es ihm zu sagen.”
Sie nickte nur. Verdammt, ich hatte doch GEWUSST, dass sie etwas zu verbergen hatte. Aber letzten Endes war es nicht sie, die mit der Wahrheit herausrückte. Murdoch wandte sich stattdessen an Dr. Haswell.
„Doktor, wenn Sie vielleicht ...?”
Frankenstein nickte und lächelte mich aufmunternd an, um sich dann auf seinem Stuhl zurückzulehnen, die Arme überkreuzt.
„Nun, Mister Thorpe, was wissen Sie über das Konzept der Multiversen?”
Bullshit. Absoluter und totaler Bullshit – das war das Erste, was mir durch den Kopf ging. Nie im Leben. Ich meine, ich stehe ja auch auf Science-Fiction und so, aber ... echt jetzt mal? Für wen hielten die mich denn? Ich lachte laut und stand auf. Ich meine, das hörte sich wie ein schlechter Scherz an, und genau das musste es ja auch sein. Und doch ...
Sonst lachte niemand. Espinoza und den beiden Wissenschaftler war meine Reaktion offensichtlich unangenehm, und Murdoch sah leicht genervt aus.
„Hinsetzen. Sofort.”
Sein Befehl kam mit einer unerwarteten Strenge, und ich sah mich genötigt, mich langsam wieder auf dem Stuhl niederzulassen. Das spöttische Grinsen war mir vergangen.
„Mister Thorpe” , begann Murdoch, nur um eine kurze Pause zu machen. „Für Sie mag sich das wie ein Witz anhören, doch ich kann Ihnen versichern, dass das, was Sie gleich erfahren werden, SEHR real ist, wie auch die Konsequenzen, die Sie erwarten, wenn Sie sich meinen Anweisungen widersetzen. Nun, mir ist klar, dass das starker Tobak ist, und Sie versuchen jetzt sich zusammenzureimen, was wir wohl davon haben könnten, Ihnen eine so bizarre Geschichte aufzutischen. Ich kann Ihnen versichern, die Antwort lautet: rein gar nichts. Wären wir nicht in dieser Lage, würde ich Sie nur zu gerne einfach Soldat spielen und mein Eigentum bewachen lassen. Aber ...“
Eine weitere Pause.
„Die Umstände und Ihre verantwortungslose Einmischung in Dinge, die Sie – noch – nicht durchschauen, haben mich zum Eingreifen gezwungen. Und leider ist es jetzt keine Option mehr für Sie, einfach zu gehen. Sie können sicher verstehen, warum.”
Als er zum Ende kam, dachte ich schon über eine Reihe wichtiger Sachen nach, etwa die Entfernung zwischen mir und der Tür, wie ich meinen Arm verdrehen müsste, um Espinoza zu treffen (die mich jetzt sehr intensiv ansah), und ob wohl jemand im Raum eine Schusswaffe hatte. Ich jedenfalls nicht, denn ich hatte ja meine gesamte Ausrüstung im Kofferraum des Wagens gelassen.
Ich legte meine Pläne auf Eis als mir auffiel, dass Espinoza ihre Waffe definitiv nicht vergessen hatte, und (noch schlimmer) ihr war nicht entgangen, worauf meine Begehrlichkeiten abzielten, und brachte ihre Hand so in Stellung, dass sie ihre Waffe sofort ziehen konnte – auf jeden Fall schneller als ich irgendetwas unternehmen konnte.
Sie sah mir direkt in die Augen, das Gesicht vor Anspannung erstarrt, und schüttelte den Kopf. Murdoch war auch nicht verborgen geblieben, was da lief, und seufzte.
„Sie müssen das jetzt nicht noch unangenehmer machen, als es ohnehin schon ist, Mister Thorpe.”
„Sam, bitte nicht”, fügte Espinoza hinzu, fast flehentlich, wie in der Nacht davor. Ich hatte so meine Zweifel, was eine Menge Sachen anging, doch angesichts ihrer Körpersprache gab ich mich keinen Illusionen hin – sie würde mich sofort erschießen. Kein wirklich schönes Gefühl.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Die Chancen standen nicht gut für mich, und alles deutete darauf hin, dass das hier eine Nummer zu groß für mich war. Einfach gesagt: Wenn was schiefging, würde ich den Raum nicht mehr lebend verlassen. Also konnte ich genau so gut das Spiel mitspielen und abwarten. Schließlich musste es ja irgendeinen Weg dort heraus geben (sagte der Scherzkeks zum Dieb). Ich seufzte und hob leicht die Hände, wie um mich zu ergeben. Nicht gerade die sicherste Wahl, doch es war seltsam befriedigend zu sehen, wie alle zusammenzuckten – bis auf Murdoch.
„Schön, schön ... Doc, dann mal raus damit.”
Espinoza entfernte sich von mir, damit ich ja nicht auf dumme Gedanken käme, doch alle anderen im Raum schienen sich ein wenig zu entspannen. Eine der massiven Steinplatten an den Wänden schob sich zur Seite, und zum Vorschein kam ein großer Bildschirm, auf dem alle möglichen Zahlen und Gleichungen zu sehen waren. Alle wandten sich dem Mann zu, der nun begann, die Natur des Lebens, des Universums und des ganzen Rests zu erklären.
Die meisten Leute stellen sich die Multiversen-Theorie so vor, dass selbst die kleinste Entscheidung quasi eine Abzweigung erzeugt, eine separate Realität. Das ist grundlegend falsch, zum Glück für uns, denn man würde ja angesichts solcher separater Realitäten vollkommen den Überblick verlieren – man stelle sich vor, mit jeder Bewegung eines subatomaren Partikels entstünde eine neue Realität!
Was wir herausgefunden haben, ist Folgendes, und bitte vergessen Sie nicht, dass ich die Sache extrem vereinfache, und manche Sachen kann selbst ich nicht mal ansatzweise erklären, weil auch ich sie nicht begreife. So ist das nun mal in der Wissenschaft, meine Herren. Und Dame, Verzeihung. Wie dem auch sei ...
Jede separate Realität – wir nennen sie Instanzen – wird durch Leben definiert. Ja, das Leben an sich. Wir haben da eine Methode ... entwickelt, oder vielmehr entdeckt, mit der wir das Merkmal jeder separaten Instanz erkennen können. Das Merkmal – ich werde es von nun an ID nennen – ist eine Zahl, eine mathematische Darstellung jedes lebenden Wesens, das jemals gelebt hat oder noch leben wird. Wir GLAUBEN, dass das irgendwie mit der DNS zusammenhängt, konnten aber die genauen Zusammenhänge nicht klären.
Momentan können wir das erkennen, was zu separaten ... nun, sagen wir, Entitäten gehört. Ich meine, das ist kompliziert – sind die Bakterien, die in Ihren Eingeweiden leben, separate Lebewesen oder ein Teil von Ihnen? Separat, nebenbei bemerkt ... doch ich schweife wieder ab.
Wie dem auch sei, die ID. Wir können die ID einer bestimmten Entität isolieren, doch das sagt uns nichts über ihre Natur. Wir können nur vermuten, dass ähnliche Entitäts-IDs in verschiedenen Universen zu ähnlichen Kreaturen führen. Bislang war das der Fall. Was wir allerdings KÖNNEN ist, die Entitäten genau in diesem Augenblick zu isolieren. Dabei hilft uns, dass aus noch unbekannten Gründen einige sehr ähnliche Realitäten in der Zeit verschoben sind. Für Laien ausgedrückt: wir können in die Zukunft und die Vergangenheit sehen. Zeitreisen sind in unserer eigenen Realität natürlich unmöglich – Einsteins Grundsätze gelten noch immer. Doch unter gewissen Umständen können wir einen Blick auf die Welten werfen, wo bestimmte Entscheidungen getroffen wurden, und deren Folgen sehen. Wie man sich denken kann, ist das eine riesige Chance für uns, die Dinge zu verbessern, und wir haben sie auch genutzt, doch das ist ein Thema, über das wir ein andermal sprechen können.
Doch es wird noch komplizierter. Wir betrachten unsere Realität als das buchstäbliche Herz der Schöpfung, was uns ironischerweise zurück zum Geozentrismus führt. Wir haben ein System entwickelt, das uns anhand der jeweiligen ID anzeigt, wie weit sich die Dinge von unserer eigenen Realität entfernt haben. Realitäten neben unserer, mit ähnlichen IDs, sind unserer ähnlich – manchmal fast vollkommen identisch, bis auf gelegentliche Zeitverschiebungen. Bei größeren Diskrepanzen wird's wild – die Gesetze der Physik gelten nicht mehr, an sich ziemlich gruselig. Es gibt Realitäten, in denen weder Licht noch Schwerkraft existiert, trotzdem aber Leben, man stelle sich das vor!
Wobei, nein, lieber nicht. Wir haben einige gute Leute verloren, die Sachen gesehen haben, die nicht für den menschlichen Verstand bestimmt sind.
Lassen Sie mich Ihnen zum Abschluss noch erklären, wie der Transfer von einer Realität zur anderen funktioniert. Ja, wir können mithilfe unserer Technologie Sachen von einer Welt zur anderen bringen. Ist das nicht genial? Nun, also, nein, nein, das ist es wirklich nicht. Die Realität ist ... stellen Sie sich einen Ballon vor, auf dessen Oberfläche wir leben. Die Oberfläche wird dabei von dem Leben in jener Realität definiert. Ja, ich weiß, wie seltsam sich das anhört, aber warten Sie's nur ab. Wir sind fast fertig.
Wenn man eine einzelne Entität entfernt, sticht man quasi ein kleines Loch in den Ballon. Je kleiner und unwichtiger die Entität, desto kleiner das Loch. Und was passiert, wenn man einen Ballon ansticht, etwa mit einer Nadel? Okay, kein gutes Beispiel. Die Realität explodiert nicht. Also dann halt kein Ballon, sondern ein Fußball. Haben Sie als Kind mal Fußball gespielt, Mister Thorpe? Gut.
Wenn Sie einen Fußball anstechen, wird der platt und fällt in sich zusammen, genau wie eine durchbohrte Realität. Das geht langsam, nimmt aber gegen Ende Fahrt auf. Das kann Jahre dauern, sogar Jahrzehnte, ist aber absolut unumkehrbar. Doch ob man's glaubt oder nicht: die Welt um uns herum verschwindet nicht. Sie endet. Und das ist ein großer Unterschied.
Verschwinden bedeutet, dass man einen Unterschied bemerkt, doch hier ist der Ablauf deutlich schleichender. Der Verstand kann solche Sachen nicht wirklich verarbeiten. Es fällt einem nicht auf. Für Sie ändert sich nichts. Ihr Bruder mag verschwinden, doch Sie suchen nicht nach ihm – als hätte es ihn nie gegeben. Nur gegen Ende sorgen die Veränderungen für unbestreitbare Diskrepanzen zwischen Ihrer eigenen Wahrnehmung und der Realität, und das ist dann der Zeitpunkt ... tja, an dem Sie wahnsinnig werden. Kein schöner Abgang. Nun, aus diesen Gründen transferieren wir NICHTS aus anderen Realitäten. Das mussten wir auf die harte Tour lernen.
Übrigens, selbst diejenigen, die einfach nur die Ereignisse in einer anderen Realität beobachten, sind betroffen. Wir nennen das Bluten. Beim Bluten dringen kleine Partikel aus einer anderen Realität in unsere ein. Das hat zwei Folgen: Zunächst einmal ist da ein starkes Gefühl von Übelkeit und Grauen. Das lässt sich auch mit Medikamenten nicht vermeiden, und wir wissen weder, warum das passiert, noch welches Prinzip dem zugrunde liegt. Das zweite Problem wird umgangssprachlich Mandela-Effekt genannt. Falsche Erinnerungen. Ihnen ist klar, dass manche Leute die Dinge anders in Erinnerung haben? Berenstone Bears oder Berenstein Bears, Nelson Mandela überlebt das Gefängnis ... solche Sachen.
Nun die gute Nachricht. Ich glaube nicht, dass Sie sich wegen all dem Sorgen machen müssen. Soweit wir wissen, sind wir die einzige Realität mit dieser Art von Technologie. Ich vielen anderen Realitäten bin ich Botaniker, stellen Sie sich das mal vor! Ich hatte schon immer ein Faible für Pflanzen ...
Ja, in dieser Realität gehen IN DER TAT viele seltsame Dinge vor sich – in zwei benachbarten Instanzen gibt es eine ungewöhnliche Anzahl an Unikaten. Nur, damit Sie das verstehen: Unikate sind Ausreißer, Entitäten, die es sonst nirgendwo im Multiversum gibt. Ja, das widerspricht komplett dem, was ich gerade erzählt habe, ist aber so. Mister Murdoch hier ist ein Unikat. Wie auch Miss Espinoza. Und ... Sie auch. Ist das nicht interessant? Wie auch immer, das wär's dann.
Tja, Scheiße. Weiß der Henker, wie oft ich in den letzten Tagen das Gefühl hatte, rein gar nichts mehr zu glauben, Millionen Fragen im Kopf. Angefangen mit einer ganz einfachen.
„Also war das Material, das wir gesehen haben ... real? Also, wirklich real?”
„Ja”, antwortete Espinoza mit tonloser Stimme.
„Woher willst du das denn wissen? Nach allem, was wir wissen, könnte das irgendein erfundener Bullshit sein!”
„Tja, ich ...”, fing sie an.
„Weil sie da war, Samuel. Wir zogen sie raus aus jener Realität, und deswegen fand sie dann ihr Ende.”, antwortete stattdessen Murdoch. Offenbar hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, die Sätze anderer zu Ende zu bringen.
„Ein ganzes Universum zum Untergang verdammen? Warum?”
„Wir wussten nicht, dass so etwas geschehen würde, und sie lag im Sterben. Unikate sind unglaublich selten. Unikate wie Sie sogar noch seltener – interessanterweise hatten Sie einen Doppelgänger in Espinozas Realität, der einzige bekannte Fall, von dem wir wissen. Leider konnten wir ihn nicht auch retten, denn er war schon tot, als wir Gail entdeckten. Seine ID war der einzige Beweis seiner Existenz.”
Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr.
„Es gibt keine Gail Espinoza in unserem Universum. Wobei es fast so scheint, als wäre ihre Realität irgendwie mit unserer verbunden ... ansonsten wären das einfach zu viele Zufälle. Wie ein berühmter Mann einst sagte: Gott würfelt nicht.”
Mein Respekt vor Espinoza wuchs mit jeder Sekunde. Man muss sich das mal vorstellen: Sie ist ganz allein auf dieser Welt, durch Raum und Zeit hierher gebracht, nur um mit ansehen zu müssen, wie ihre alte Welt mit allen verschwindet, die sie jemals kannte. Ein schwächerer Verstand wäre längst flöten gegangen, aber nicht bei ihr. Ich nahm mir vor, sie nach jener anderen Welt zu fragen, den Regeln, den Leuten dort ... allem. Doch nicht jetzt, denn jetzt war es Zeit für die große Frage, vielleicht sogar die größte.
„Also, was jetzt?”
Murdoch verlagerte sein Gewicht und faltete wieder die Hände.
„Das hängt von Ihnen ab, Mister Thorpe. Wir können Sie nicht laufen lassen, würden aber einen Vertrag verlängern. Einen äußerst lukrativen Vertrag, wie ich anmerken möchte. Doch es ist noch viel zu tun.”
Er lehnte sich vor und bedachte alle im Raum mit einem langen, durchdringenden Blick.
„Seit Jahrzehnten fördere ich schon dieses Land. Mit Erfolg, wie ich anmerken möchte. Doch jetzt scheint alles auseinanderzufallen. Zu schnell. Imperien tauchen auf, Imperien gehen unter, doch niemals so schnell. Jemand will die Welt manipulieren, die wir erschaffen haben, sie aus unbekannten Gründen untergehen lassen. Ich will wissen, wer das ist und warum er das macht. Zudem braucht diese Welt Technologie, und diese Technologie könnten wir ... anderswo finden. Unsere Forschungsabteilung”, er nickte Haswell zu, „erzählt mir, dass wir unmittelbar vor einem Durchbruch stehen, der es uns ermöglichen wird, andere Welten zu besuchen, ohne gleich die Realität dem Untergang zu weihen.”
„Und schließlich”, fuhr er fort, „müssen wir mehr über unsere rätselhaften Angreifer erfahren. Woher sie kommen und was sie wollen. Es ist möglich, dass alles miteinander zusammenhängt – wie, das müssen Sie nun herausfinden. Sie bekommen Ressourcen, eingeweihte Männer und Frauen, Zugang zu Technologien, von denen Sie nicht mal zu träumen wagten. Also, raus mit der Sprache, ist das eine Gelegenheit, die Sie sich entgehen lassen wollen?”