Über

Eintrag 20

scr20

Eintrag 20 – Was hätte sein können

Und genau da bin ich jetzt: Eine kleine Kapsel auf einer der oberen Etagen des Perihelion-Gebäudes, offensichtlich für Mitarbeiter designt, die zu viel zu tun haben, um zum Schlafen noch nach Hause zu fahren. Die ganze Sache hier macht mir immer noch zu schaffen. Der ganze Abend danach ist mir nur noch verschwommen in Erinnerung. Ich habe von Dr. Haswell ein Tablet mit den wichtigsten Sachen in schriftlicher Form bekommen, darunter ein besonders interessantes Beispiel für eine Realität mit Zeitverschiebung. In dem Beispiel, das er anführte, wurde jene Realität 1944 entdeckt, und eine Reihe strategischer Fehler führten zum Scheitern der Invasion in der Normandie. Tausende Alliierte fielen, und die Deutschen konnten den Brückenkopf behaupten und binnen Tagen nach dem Fiasko nach und nach die kläglichen Reste beseitigen. Der Krieg ist seitdem beendet (es ist jetzt dort schon 1948), doch nicht ohne weitere Millionen von Opfern, denn die Deutschen begannen aus Angst vor der Rache der Sowjets alle Zeugen zu beseitigen. Ende 1946 war kaum noch ein Jude in Europa am Leben, ein schrecklicher Preis für einen gescheiterten Plan.

Doch das ganze Desaster hat, zynisch gesehen, auch einen praktischen Aspekt. Die Eierköpfe in den unteren Etagen haben gesehen, wie die Nazis jede Menge Gold ins Meer geworfen, in Höhlen versteckt oder in Minen vergraben haben, in dem Irrglauben, dass sich ihr Tausendjähriges Reich (das gerade einmal 15 Jahre durchgehalten hatte) wieder erheben würde. Wie sich herausstellte, glaubten sie das auch in unserer Welt, und Perihelion-Teams in Europa konnten so zahlreiche unbezahlbare Artefakte sicherstellen.

Selbst jetzt fühlt sich das alles wie ein Traum an, noch ein Alptraum, aus dem man jeden Moment aufwachen kann. Jetzt, wo ich die Erinnerungen an die letzten Tage ein wenig unterdrücken konnte, wird mir klar, dass ich mich mein ganzes Leben lang so gefühlt habe – dieses Unwohlsein, dieses Gefühl, nirgendwo hinzugehören, das alles.

Und dann wäre da noch die ganze Wahrheit, die hinter der Realität steckt. Selbst jetzt fällt es mir schwer, das zu glauben. Ich habe eine ganze Weile darüber nachgedacht, und jetzt ist mir klar, warum das alles ein Geheimnis bleiben muss. Zunächst einmal würde das alle Religionen auf den Kopf stellen – die Massen werden durch das Versprechen eines herrlichen Lebens im Jenseits ruhig gestellt, doch was ist, wenn es Beweise dafür gibt, dass es so etwas gar nicht gibt? Ein kategorisches Problem, keine Frage. Manch einer würde behaupten, auch das sei ein Werk Gottes, manch einer würde vom Glauben abfallen, manch einer würde vielleicht das Werk des Teufels darin erkennen. Vielleicht gar nicht zu Unrecht. Doch die unbequeme Wahrheit ist, dass das Versprechen des Paradieses manche bei der Stange hält – sonst würden sie wie rasende Wölfe übereinander herfallen. Homo homini lupus und so weiter.

Und was ist mit dem Rest, denjenigen, die nicht an eine höhere Macht glauben, sondern an sich selbst? Auch die würde leiden, fürchte ich. In den letzten beiden Jahrzehnten kamen viele Theorien zum Wesen des Universums auf. Manche behaupten, es sei ein Hologramm, manche sagen sogar, wir leben in einer virtuellen Realität. Was ist hier entdeckt habe, ist nicht allzu weit entfernt von diesen beiden Konzepten, die erwiesenermaßen zu grenzenlosem Nihilismus führen. Wenn man nichts als eine Simulation ist, was spielt es dann schon für eine Rolle, was man anstellt? Man könnte genau so gut seiner dunkelsten Seite freien Lauf lassen und jedem noch so niederen Instinkt nachgeben, weil jede Entscheidung ja sowieso egal ist.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute Nacht schlafen kann. Ich werd's versuchen. Eine neue Welt wartet. Bin ich bereit für sie? Nicht mal ansatzweise.

Nach oben

About

Sei dabei!