Eintrag 6 – Möglichkeiten
Eine Dusche und einen unruhigen Schlaf später stand ich vor einem großen und unscheinbaren Bürogebäude an der Adresse, die man mir angegebenen hatte. Auf der Marmortafel über der Tür war das Wort „Perihelion“ eingraviert, zusammen mit dem Symbol einer großen Hemisphäre, die von einer kleineren Kugel umkreist wurde. Ferguson erwartete mich bereits in der Lobby mit einer Mischung aus Ungeduld und Selbstvertrauen. Sobald sie mich bemerkte, ging sie auf mich zu und runzelte dabei ihre schöne Stirn.
“Mister Thorpe. Sie sind ... nicht zu spät, aber auch nicht zu früh. In diesem Business fängt aber eben der frühe Vogel der Wurm.“
Ein guter Start.
„Verzeihen Sie, Madam.“
Sie beruhigte sich etwas und nickte.
„Nun denn, wir haben in den nächsten Stunden viel zu tun."
Sie führte mich in ihr Büro, und ich folgte ihr, wobei ich die neugierigen Blicke, die mir die Angestellten von Perihelion zuwarfen, geflissentlich ignorierte. Das Ambiente sah ungewöhnlich aus, eher wie eine Forschungs- und Entwicklungseinrichtung als ein Bürogebäude, sterile weiße Gänge und Menschen in Anzügen, die sich mit Männern und Frauen in weißen Kitteln vermischten, die eindeutig wie Wissenschaftler aussahen. Ich konnte niemanden sehen, der auch nur im Entferntesten wie ein Soldat aussah, außer ein paar gelangweilten Sicherheitsleuten, die auf dem Gelände patrouillierten.
Wir erreichten den Aufzug, der uns in den zweiten Stock brachte, wo Norah Fergusons Büro lag. Es war ein riesiger, mit Marmor ausgekleideter Raum, in dem Möbel aus exotischen Hölzern standen. Das war schon eher das, was ich erwartet hatte. Die schiere Größe und die Kosten, die erforderlich waren, um den Raum so aussehen zu lassen, waren beeindruckend. Im Gegensatz zu der Aussicht. Das Gebäude war nicht sehr hoch, aber immerhin war von hier der Michigansee zu sehen, der in der Morgensonne glitzerte. Ich konnte sogar mehrere Segelboote erkennen – ein wunderbar entspannender Anblick, der durch das leise Plätschern eines kleinen Wasserfalls ergänzt wurde, der einen Teil einer mit Steinen ausgelegten Wand bildete.
Die Dame trat an ihren großen Schreibtisch und begann, einige Papiere zu durchforsten. Da ich nichts weiter zu tun hatte, fuhr ich damit fort, den Raum zu betrachten. Etwas erregte meine Aufmerksamkeit: eine Reihe von seltsamen Symbolen, eingemeißelt in einige der Steine, die älter aussahen als der Rest. Sie machten einen geradezu antiken Eindruck und ich war bereit, jede Wette einzugehen, dass sie früher zu einer Museumssammlung gehört haben mussten. Ich beschloss, meine Vermutung auf die Probe zu stellen.
„Aztekisch?“
„Wie bitte?“, antwortete sie geistesabwesend, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
„Die Symbole an der Wand.“
„Nein“, spöttelte sie. „Nicht ganz.“
Und das war auch schon alles, was ich den ganzen Vormittag über von ihr als „Gespräch“ zu hören bekam. Nach wenigen Minuten wechselten wir in einen angrenzenden Konferenzraum über und arbeiteten uns durch einen Berg von Diókumenten. Zwischendurch dachte ich, wie viele Hektar Wald allein für diesen Vertrag hatten gefällt werden müssen. Noch schlimmer aber war die Tatsache, dass ich das meiste sowieso nicht verstand und mir ganz sicher keinen Anwalt hätte leisten können, der ein ganzes Jahr lang damit beschäftigt sein müsste, jeden einzelnen Absatz zu analysieren. Kurzum war es wie immer mit großen Unternehmen: Wenn sie dich übers Ohr hauen wollen, werden sie genau das tun und den Teufel im Kleingedruckten verstecken. Ferguson gab zwischendurch immer wieder kurze Erklärungen ab, und ich tat so, als würde ich sie verstehen, aber am Ende hätte sie mir einfach sagen können: „Unterschreiben Sie bitte hier“, und ich hätte es ohne Murren getan.
Als wir endlich fertig waren, war es schon gut nach Mittag. Irgendwann brachte eine andere Dame ein paar Sandwiches und Kaffee, die ich hungrig verschlang, während ich versuchte, die Unterlagen zu lesen. Ferguson rührte kaum etwas an. Ich bewunderte ihre Zurückhaltung, schlug aber dennoch ungeniert zu, da ich einen Bärenhunger hatte. Als ich endlich den Stift auf den Tisch legte und mir die müden Augen rieb, hatte sie den Papierkram bereits zu mehreren Stapeln geordnet und winkte mir auch schon, ihr zu folgen.
Nachdem sie den Konferenzraum abgeschlossen hatte, drehte sie sich zu mir um und sagte mit einem Seufzen:
„Verzeihen Sie den holprigen Start heute. Ich freue mich, Sie an Bord zu haben, und Mister Murdoch ebenso. Wir sind es nur nicht gewohnt, mit Außenstehenden zu arbeiten, und Mister Murdoch ...“
Sie schien ihre Worte mit Bedacht zu wählen.
„... liegt seine Mission sehr am Herzen. Sie werden das schon bald herausfinden. Auf dem Dach wartet ein Hubschrauber auf Sie, der Sie zum Flughafen bringen wird. Von dort aus werden Sie mit dem Firmenjet nach Arizona fliegen und die Truppen in unserer Basis treffen. Sie werden dort bereits erwartet. Ich weiß, es ist viel auf einmal, aber ... die Zeit drängt.“
Ihr flüchtiges, erschöpftes Lächeln war irgendwie entschuldigend und definitiv das Hübscheste, das ich seit dem Morgen gesehen hatte. Mit diesen Worten schüttelte ich ihre Hand, verabschiedete mich und machte mich wieder auf zum Fahrstuhl – und zum Beginn meines Abenteuers.